Steckbrief
- Name: Simone de Beauvoir
- Lebensdaten: 1908–1986
- Bekannteste Werke: Le Deuxième Sexe(1949), Pour une Morale de l’Ambiguïté (1947), Les Mandarins (1954)
- Themen: Feminismus, Existenzialismus, Phänomenologie
- Sprachkultur: Französisch
- Schlagworte: Gender, Geschichte, Kulturtheorie, Philosophie, Europa
Die Schreibende
Einleitung: Leben und Schreiben
Ein bestimmtes Bild, das einem Auszug aus Simone de Beauvoirs Memoiren sowie einer Fotografie auf der Webseite des Cafés Les Deux Magots entspringt, geht mir nicht aus dem Kopf: ein weißer Spitzenvorhang fällt von der hohen Decke herab, einige unbesetzte Tische spiegeln das großzügig hindurchgelassene Tageslicht. Die Luft des Cafés wird angereichert durch das gedämpfte Rauschen fremder Unterhaltungen und den atmosphärischen Duft von Kaffee. Ich stelle mir vor, wie die ungeplante Pionierin der zweiten Welle des Feminismus umgeben von Bücherstapeln in jenem Pariser Café sitzt, den Blick auf bedruckte Seiten oder unbeschriebenes Papier gesenkt. Hier verfasst sie ihr Hauptwerk, das gleichzeitig notwendige „Präambel zu ihrem autobiografischen Werk“ (Garcia 56) sein wird. Vielleicht weil ein eigenes Zimmer nur bedingt Zugriff auf die Welt verschafft. Denn um das Innere gewinnbringend (für ihre Leser:innen und sich) äußern zu können, fühlt sich die öffentliche Intellektuelle dazu verpflichtet, sich bewusst zu machen, inwiefern der gesellschaftliche Raum ihre persönlichen Erfahrungen und Empfindungen geprägt hat. Umgeben von fremden und bekannten Gesichtern und vertieft in die eigenen Gedanken ließ sich dieses Verhältnis von Öffentlichem und Privaten vielleicht leichter vergegenwärtigen.
Bevor Beauvoir ihre Memoiren schreiben konnte, musste sie sich der Frage nach der gesellschaftlichen Position der Frau widmen. Das erste Buch von Le Deuxième Sexe untergräbt die männlich dominierte Wissensproduktion zu diesem Thema, die sich in Form von Mythen und vermeintlicher Wissenschaftlichkeit herausgebildet hat. Im zweiten Buch entwickelt sie eine phänomenologische Methode, anhand derer sie den vorgeschriebenen Lebensweg exemplarischer Frauenfiguren untersucht. Diese Figuren entnimmt sie einer breiten und von ihr ausgiebig zitierten Textauswahl. Tagebücher, psychologische Studien, Literatur, Anekdoten und anderes speist sie in ihr Werk ein und verfolgt den aus ihnen hervorgehenden, vereinheitlichten Werdegang der Frau. Das junge Mädchen, ihre ersten sexuellen Erfahrungen, die Ehefrau, die Mutter, die Sexarbeiterin, die Frau im Alter. Ihr jeweiliges Verhalten wird als Ausdruck ihrer Situiertheit in den gegebenen gesellschaftlichen Umständen nachvollzogen (Beauvoir 440).[1]. Der zentrale Begriff der Situation erlaubt es Beauvoir, gängige Vorwürfe sexistischer Zeitgenossen aufzunehmen (Frauen seien von Natur aus unterwürfig, hinterlistig, narzisstisch) und die kritisierten Charaktereigenschaften als Ergebnis, nicht als Voraussetzung, weiblicher Unterdrückung durch männliche Herrschaft zu begreifen (347).
Beim ersten Lesen überraschte mich, dass Beauvoir am Ende von Le Deuxième Sexe auch die Frau auf dem Weg zur Befreiung, insbesondere als Schreibende, kritisch betrachtet. Statt der von mir erwarteten Darstellung der emanzipierenden Eigenschaften weiblichen Schreibens bietet Beauvoir ihren Leser:innen eine kritische Analyse der literarischen Mängel mancher Schriftstellerinnen und deren gesellschaftlicher Bedingtheit. Rückblickend ist dieses Vorgehen im Kontext ihres oben erwähnten Vorhabens nur konsequent. Denn wie die Mutter und die Sexarbeiterin ist auch die Schriftstellerin in ein gesellschaftliches Geflecht eingebettet, das darauf aus ist, ihre schlechtesten Seiten hervorzubringen. Beauvoir beobachtet, wie das unreflektiert situierte Schreiben mancher Frauen dann schnell bloß eitler Selbstausdruck wird und sich in narzisstischem Überfluss ergießt (869).
Ähnliche Vorwürfe finden sich in der historisch männlich dominierten Literaturkritik wieder, die einen entscheidenden Beitrag dazu leistete, dass viele Autorinnen bis heute aus dem Kanon ausgeschlossen worden und in Vergessenheit geraten sind. Kritisiert wurde dabei häufig die vermeintliche Belanglosigkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt (Seifert 92). Vor diesem Hintergrund möchte ich betonen, dass dieser Essay keinesfalls auf eine Rechtfertigung sexistischer Literaturkritik hinauslaufen soll, sondern ich im Dialog mit Beauvoirs feministischer Kritik ernsthaft der Frage nachgehen will, was manche dieser Texte vielleicht zurecht mangelhaft erscheinen ließ und welche gesellschaftlichen Zusammenhänge sich dahinter vermuten lassen. Mit Beauvoir kann die Frage, was gelungenes literarisches wie autobiografisches Schreiben (das heute oft unter dem weiten Begriff Life-Writing gefasst wird) ausmacht, somit als feministische Frage verstanden werden. Dabei spielt eine kritische Betrachtung der von Frauen verfassten Texten eine entscheidende Rolle. Denn neben der Integration in den Kanon des Gelesenen muss es auch möglich sein, die Werke von Frauen genauso kritisch zu besprechen wie die ihrer Kollegen. Ansonsten laufen wir Gefahr, sie vorläufig in den Kanon aufzunehmen, aber aus dem literaturkritischen Diskurs auszuschließen. Gleichzeitig sollten wir die strukturell bedingten Auswirkungen auf ihr Schreiben nicht ignorieren. Beauvoir zeigt, dass es möglich ist, Literaturkritik mit Gesellschaftskritik zu verbinden, ohne ihre Kolleginnen paternalistisch Texte durchgehen zu lassen, die einiges an Reflexion und Weitblick zu wünschen übriglassen.
Simone de Beauvoirs feministische Literaturkritik. Oder: Die Welt in Klammern setzen
Dennoch zögere ich vor der endgültigen Einschätzung, welche autobiografischen Texte von Frauen gelungen und welche narzisstischer Bekenntnisüberfluss sind. Beauvoir arbeitet jedoch am Ende ihrer „Präambel“ überzeugend heraus, was autobiografisches Schreiben von Frauen im Allgemeinen gut oder schlecht machen kann (wobei sie sich im Zuge dessen unschmeichelhaft auch auf einige konkrete Beispiele bezieht). Hier wirft Beauvoir implizit auch auf ihr eigenes zukünftiges schriftstellerisches Vorhaben einen kritischen Blick. Sie analysiert genau, warum manches Schreiben von Frauen gelungen ist, aber ihr Interesse liegt vor allem an denjenigen, die in ihrem Schreiben daran scheitern, sich über die ihnen zugewiesene Rolle als spielende, nicht ernsthaft arbeitende Narzisstin zu erheben (870). Statt Literatur verfassen diese Schreiberinnen unkritische Ausschmückungen ihres Selbstbilds (869).
Dieses narzisstische Schreiben ist als Ergebnis der Verinnerlichung männlicher Herrschaft zu verstehen. Die Verinnerlichung des äußeren, objektivierenden Blicks versperrt den eigenen Blick über die Grenzen des Selbst hinaus (429). Selbstdarstellung lässt keinen Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit der Welt. So wird dramatisch enthüllt, um ein gewisses Selbstbild zu befördern (683), statt zu hinterfragen. Die Schreiberin errichtet eine Scheinwelt, die um ihr Inneres kreist, anstatt sich fragend Zugriff auf die Welt zu verschaffen (877). Sie hat eine reflektierte Klarsicht auf ihre direkten Verhältnisse und Empfindungen, aber das reicht laut Beauvoir nicht aus, sie erwartet mehr von ihren Kolleginnen, traut ihnen mehr zu (875f).
Was macht also gutes (insbesondere autobiografisches) literarisches Schreiben für Beauvoir aus? Wie beruft man sich auf die eigene Erfahrungswelt, ohne dem Narzissmus ungekürzter Bekenntnisschwalle zu erliegen?
Der erste Maßstab gelungenen Schreibens ist für Beauvoir die Überwindung von Selbstgefälligkeit (896). Die narzisstisch-kompensierende Schreiberin instrumentalisiert die Literatur zum fragwürdigen Zweck ihrer Selbstdarstellung. Doch auch autobiografisches Schreiben muss diese undifferenzierte Expressivität hinter sich lassen. Denn aus dieser inhaltlichen Ausrichtung des Texts ergeben sich schnell Probleme der Form. Die Schreiberin, die insgeheim ihre Tätigkeit nicht ernst nimmt, nur mit ihr spielt, hat keine Geduld, sich durch Übung und Studien das Handwerk des Schreibens anzueignen (auch wenn sie es später vielleicht subvertieren wollen wird) (870). Da alles spontan und vollkommen aus ihr heraussprudeln soll, fehlt ihr die ehrliche Bescheidenheit, aus ihren Fehlern zu lernen (871). Ihre Leser:in wird zudem weder berücksichtigt noch antizipiert, der Text ist wie jeder andere Tagebucheintrag eigentlich doch nur für seine Verfasserin bestimmt (871), daher muss auch nichts gekürzt, mit kritischem Blick auf das eigene Werk ausgewählt oder verworfen werden (872). Die selbstgefällige Haltung der narzisstischen Schreiberin verhüllt also nur schlecht, dass sie sich in Wahrheit nicht zutraut, im Schreiben über die Grenzen ihres Selbst hinauszugehen.
Das Sammeln ihrer Eindrücke und inneren Regungen bringt jedoch schon eine Klarsicht für ihr Empfinden und ihre direkten Verhältnisse mit sich, von denen ihr Schreiben profitieren kann (875f). Um es vom einschränkenden Ballast ihrer Situation zu befreien und sich als Schaffende zu emanzipieren, bedarf sie jedoch einer kritischen Auseinandersetzung mit der Welt jenseits des Horizonts des Selbst, die ihrem tatsächlich literarisch wertvollen Rohmaterial den letzten Schliff verleiht. An den Texten, die noch am weitesten von dieser Befreiung entfernt sind, bemängelt Beauvoir vor allem die Zurückhaltung ihrer Autorinnen gegenüber jeglicher kritischen Betrachtung der Welt: „Sie setzen die Welt nicht in Klammern, sie stellen ihr keine Fragen, sie prangern ihre Widersprüche nicht an: sie nehmen sie ernst.“ (877) Die Welt in Klammern zu setzen, würde ihnen nämlich ermöglichen, dem einschläfernden Lied des vermeintlich Unveränderlichen zu widerstehen und die Welt erneut mit wachen Augen zu betrachten, um sich alternative Entwicklungen vorstellen zu können. Wie etwa eine Welt, in der sie sich nicht auf das Double ihrer narzisstischen Selbstdarstellung hin entfremden müssen, um für einen wesentlichen Mangel zu kompensieren (798).
Die Komplexität der Selbstvergessenheit. Ein Ausblick
Das Bild Beauvoirs als einer Schreibenden, in der sich ihre Kolleginnen und Vorgängerinnen überlagern, kehrt vor mein geistiges Auge zurück. Vor der Schreibenden häufen sich Berge fremder Seiten, die sie sich aneignen will, bevor sie ihre eigenen Erfahrungen schriftlich reflektieren kann. Im Lesefluss wird sie sich unweigerlich verändern. Eine sich langsam vereinheitlichende Polyphonie wird von ihrer Stimme Besitz ergreifen. Sie weiß nun (ungefähr), wo sie ist. Entwürfe werden verfasst und verworfen. Sie findet und vergisst sich zunehmend, je mehr Zugriff auf die Welt sie sich in kritischen Auseinandersetzungen verschafft. Doch ihre Situation stellt weiterhin eine nicht komplett überwindbare Gegenkraft dar, der sie sich stets bewusst sein muss. Das wirft weitere literarische Probleme auf: „Was der Frau heute im wesentlichen fehlt, um große Dinge zu tun, ist Selbstvergessenheit. Um sich aber selbst zu vergessen, muß man erst einmal ganz sicher sein, daß man sich selbst gefunden hat.“ (867) Die Schreibende kann sich nicht ganz vergessen, solange ihre Subjektivität strukturell verdrängt wird.
Was bedeutet dann diese Selbstvergessenheit im reflektiert situierten Kontext, den Beauvoir gelungenem Schreiben voraussetzt? In A Room of One’s Own begreift Virginia Woolf Selbstvergessenheit als Bedingung für gelungenes literarisches Schreiben: „The whole of the mind must lie wide open if we are to get the sense that the writer is communicating his experience with perfect fullness. There must be freedom and there must be peace.“ (Woolf 79) Beauvoir stimmt dem zu, aus ihren Betrachtungen ergibt sich jedoch zudem eine Sensibilität für die Komplexität dieses Anspruchs. Es stellt sich die Frage, inwiefern Schreiben schon emanzipiert sein muss, um emanzipierend sein zu können: „Solange sie noch darum kämpfen muß, ein Mensch zu werden, ist sie außerstande, eine Schöpferin zu sein.“ (880) Selbstvergessenheit kann also nur durch eine Einordnung in größere Zusammenhänge erreicht werden, also infolge sozialer Selbstfindung und Anerkennung. Es bedarf einer Verortung, die das Subjektive berücksichtigt, um in einem zweiten Schritt über seine Grenzen hinausgehen zu können. Das ist, wenn überhaupt, nur bedingt für einzelne Schriftstellerinnen erreichbar.
Der erste Schritt dieses Projekts sozialer Selbstfindung und Emanzipation wurde von feministischen Autorinnen der 70er und 80er daher kollektiv angegangen. In den Jahrzehnten nach Erscheinen von Beauvoirs zweiteiliger Monografie nahmen diese Autorinnen sich der Aufgabe an, ihre Erfahrungen im gesellschaftlichen Kontext literarisch herauszuarbeiten und damit eine „Geschichtsschreibung weiblicher Subjektivität“ (Seifert 121) nachzuholen. Sie griffen dazu die Formen der Autofiktion und des Essays auf (Seifert 122-124) und etablierten eine neue Tradition autobiografischen Schreibens, die sich heute in dem weiten Genre des Life-Writing fortsetzt, zu deren viel rezipierten Vertreter:innen u.a. Maggie Nelson gehört. In autotheoretischen Texten wie The Argonauts verwebt Nelson ihre gelebte Erfahrung mit Reflexionen zu den gesellschaftlichen Strukturen, an denen diese anstoßen. Sie schreibt dort über die Grenzen des Sagbaren, über Mangel in Sprache und Begehren. Ihre Gedanken kreisen schon zu Beginn um die metatextuelle Frage, ob Worte jemals gut genug sein können, ob sie auch immer schon das beinhalten, was an direkter Bedeutung über sie hinausgeht (Nelson 3-5). Beim Lesen frage auch ich mich, ob Worte ausreichen können, um ihre Schreibenden über sich selbst hinaus zu helfen, wenn sie nur reflektiert genug ihre Situiertheit miteinbeziehen.
Beauvoir warnt zumindest davor, dass Worte das Gegenteil vermögen. Denn die Verführung ist groß, sich als Leser:in oder Schreiber:in alternativen Formen der Einsicht hinzugeben, die die gegenwärtige Hegemonie bestätigen. Die Prominenz autobiografisch unterlegter Selbstoptimierungsliteratur zeigt, dass Bekenntnisse belohnt werden, solange sie ins Nichts führen. Solange sie individuell rühren und inspirieren, aber nicht kollektiv bewegen. So werden sie nämlich weder uns noch ihren Autor:inen dazu verhelfen, die Welt kritisch zu erschließen. Sie führen nur dazu, dass wir nicht als bekennende Narzisst:innen geboren werden müssen, um uns schließlich in dieser Rolle gefährlich wohl zu fühlen.
[1] Im Folgenden werden die Seitenzahlen aus Beauvoirs Das andere Geschlecht direkt zitiert ohne Nennung des Autorinnennamens.↩︎
Zitierte Literatur
- Beauvoir, Simone de. Das andere Geschlecht. Übersetzt von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, 2024.
- Garcia, Manon. Wir werden nicht unterwürfig geboren: wie das Patriarchat das Leben von Frauen bestimmt. Übersetzt von Andrea Hemminger. Suhrkamp, 2024.
- Nelson, Maggie. The Argonauts. Melville House UK, 2016.
- Seifert, Nicole. Frauen Literatur: abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Kiepenheuer & Witsch, 2021.
- Woolf, Virginia. „A Room of One’s Own“. In: A Room of One’s Own and Three Guineas. Oxford University Press, 2015, S. 1–86.
Weiterführende Literatur
- Beauvoir, Simone de. Le Deuxième Sexe, II. Gallimard, 1949.
- Beauvoir, Simone de. La Force des Choses. Gallimard, 1967.
- Bovenschen, Silvia. „Reise ins ungelobte Land“. In: Schlimmer machen, schlimmer lachen: Aufsätze und Streitschriften. Fischer, 2009, S. 57–67.
- Cooke, Jennifer. Contemporary Feminist Life-Writing: The New Audacity. Cambridge University Press, 2020.
Empfohlene Zitierweise
Charlotte Fitzgerald: [Art.] Simone de Beauvoir. In: Online-Enzyklopädie der Frauen in der Theoriegeschichte. Hrsg. von Marília Jöhnk. URL: https://theoriespuren.de/artikel/simone-de-beauvoir/ [Datum des letzten Abrufes].