Silvia Federici

Silvia Federici

Artikel von Marike Stern

Steckbrief

  • Name: Silvia Federici
  • Lebensdaten: *1942
  • Bekannteste Werke: Caliban and the Witch. Women, the Body, and Primitive Accumulation (2004), Revolution at Point Zero. Housework, Reproduction, and Feminist Struggle (2012), Witches, Witch-Hunting, and Women (2018)
  • Themen: Feminismus, Hexenverfolgung, Kapitalismus, ursprüngliche Akkumulation
  • Sprachkultur: Englisch, Italienisch
  • Schlagworte: Feminismus, Geschichte, Postkolonialismus, Europa, Vereinigte Staaten

Caliban and the Witch

Silvia Federici beschäftigt sich in vielen ihrer Werke mit der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft und insbesondere mit der Bedeutung der Hexenverfolgung für die Entwicklung von geschlechtlichen Rollen. Im Jahr 1967 wandert Federici von Italien in die Vereinigten Staaten aus, um einen PhD in Philosophie zu erhalten. Kurze Zeit später interessierte sie sich verstärkt für die neu entstandene feministische Bewegung und verlässt die Universität, um eine Koordinatorin des Komitees Wages for Housework (WfH) zu werden (Austin 132). In ihrem bekanntesten Werk Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation von 2004 betrachtet Silvia Federici die Entwicklung vom Feudalismus zum Kapitalismus aus einer weiblichen Perspektive, die bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Federici knüpft an die Positionen von Karl Marx und Michel Foucault an, indem sie deren Ansätze aufgreift, kritisiert und weiterdenkt. Einer ihrer wesentlichen Kritikpunkte an Marx und Foucaults Analyse des Kapitalismus ist die Vernachlässigung der Rolle der Frau, die ihrer Meinung nach eine zentrale Rolle in der Entstehung des Kapitalismus spielt. In ihrem Werk erforscht Federici die Entstehung des stereotypischen Frauenbildes und dessen Folgen für die Gesellschaft im Mittelalter. Federici geht vor allem darauf ein, dass die damaligen Entwicklungen von der Entfremdung der Individuen bis zur Isolation der Frauen noch bis heute Auswirkungen haben.


Veränderte Lebensbedingungen

Federicis Hauptwerk Caliban and the Witch stellt einen wesentlichen Punkt dar, um ihre Überlegungen zum Kapitalismus zu verstehen. In ihrer Argumentation spielt zunächst die Pest eine wichtige Rolle. Der Schwarze Tod verändert im 14. Jahrhundert maßgeblich die Lebensbedingungen der Bevölkerung in Europa. Durch die dezimierte Bevölkerung erhält Fortpflanzung eine neue Bedeutung. Die Pest stellt für Federici somit einen Wendepunkt dar, denn es handelt sich um einen demografischen Kollaps, der das soziale und politische Leben wesentlich verändert (Federici 47). Ein Klassenkonflikt entsteht, der auch durch Maßnahmen des Staates nicht eingedämmt werden kann: „However, by the end of the 15th century, a counter-revolution was already under way at every level of social and political life. […] they gave them [male workers, M. S.] access to free sex, and turned class antagonism into an antagonism against proletarian women.“ (Federici 52). Dies stellt Federicis Meinung nach den ersten Schritt dar, um Frauen auf die Funktion ihrer Körper zu reduzieren.


Nachdem Kolumbus im Jahre 1493 aus Amerika zurückkehrt, bringt er eine Krankheit mit, die sich in rasanter Geschwindigkeit in Europa ausbreitet. Im 16. und 17. Jahrhundert folgt auf die Syphilis eine ökonomische Krise mit bisher noch nie dagewesenen Ausmaßen, woraufhin der Staat Maßnahmen ergreift: Federici argumentiert, es sei kein Zufall, dass bei schwindenden Bevölkerungszahlen schwere Strafen gegen Frauen mit vorgeworfenen „reproductive crime[s]“ (Federici 95) eingeführt werden. Die Familie erhalte eine neue Bedeutung, um die Rolle des Gebärens in den Vordergrund zu rücken. „But the main initiative that the state took to restore the desired population ratio was the launching of a true war against women clearly aimed at breaking the control they had exercised over their bodies and reproduction.“ (Federici 97) An dieser Stelle spielt die Hexenverfolgung eine Rolle, denn sie kann im Zusammenhang mit der Kontrolle des Staates über Fortpflanzungsgesetze betrachtet werden. Als Konsequenz der neuen Gesetze werden unzählige Frauen im 16. und 17. Jahrhundert strafrechtlich verfolgt, wodurch die Hexenverfolgung ihren Anfang findet (Federici 98). Im Besonderen der Verlust von generationsalten Verhütungs- und Abtreibungsmitteln, die vor allem von Hebammen ohne staatliche oder kirchliche Kontrolle verbreitet wurden, entzieht nach Federici den Frauen die Selbstbestimmung über ihre eigenen Körper.


Entfremdung des Körpers

Nicht nur Frauen werden von ihren Körpern entfremdet -die gesamte Bevölkerung erfährt einen Prozess der Entfremdung. Eine wesentliche Voraussetzung des Kapitalismus ist der Prozess des entfremdeten Körpers, um die Kraft des Individuums in Arbeitskraft zu verwandeln (Federici 139). Dafür spielt der Rationalismus eine große Rolle, vor allem Descartes und der Leib-Seele-Dualismus erhalten mehr Gewicht. Der Körper ist wesentlich für die neu definierte Arbeitskraft, doch er ist auch das größte Risiko (Federici 151). „The body had to die so that labor-power could live.“ (Federici 151) Folglich wird nach Federicis Argumentation eine neue Version des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft geschaffen, um dessen Existenz zu sichern. Entscheidend in dem Prozess seien die Enteignungen von Land, denn dadurch sind Arbeiter gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, da sie keinen direkten Zugang zu Produktionsmitteln mehr haben.


Der zentrale Angriff auf den Körper steht in Zusammenhang mit der Hexenverfolgung, denn „reproductive crimes“ wurden vielen als Hexen verfolgten Frauen vorgeworfen. Zusätzlich stellte der Besitz von magischen Kräften eine Gefahr dar, da der bloße Glauben an magische Kräfte Potential für soziale Ungehorsamkeit in sich birgt (Federici 153). „The incompatability of magic with the capitalist work-discipline and the requirement of social control is one of the reasons why a campaign of terror was launched against it by the state.“ (Federici 154)


Krieg gegen Frauen

Der Titel der Studie Caliban and the Witch ist maßgeblich von Shakespeares Werk The Tempest aus dem Jahr 1611 beeinflusst, denn dieses Schauspiel dient Federici als Beispiel der Unterdrückung der Frau. „For Federici, in contrast, the missing figure is Sycorax, Caliban’s dead mother: a powerful Algerian witch who thoroughly haunts the text.“ (Menzel 99) Sowie Frauen in der Untersuchung des Kapitalismus bei Marx und Foucault vernachlässigt werden, steht in dieser Tragikomödie die Hexe Sycorax stellvertretend für die Unterdrückung, da sie in dem Werk kaum eine Rolle spielt. Die Symbolik der Figur nutzt Federici, um darzustellen, inwiefern die Geschichte von Frauen als Teil der Entstehung des Kapitalismus vergessen wurde.


Im nächsten Zug stellt Federici die These auf, dass die Hexenverfolgung eines der wichtigsten Ereignisse in der Entstehung des Kapitalismus gewesen sei (Federici 176). „Witch-hunting reached its peak between 1580 and 1630, in a period, that is, when feudal relations were already giving way to the economic and political institutions typical of mercantile capitalism.“ (Federici 177-178) Doch in der Geschichte des Kapitalismus spielt die Hexenverfolgung kaum eine Rolle. Die Verfolgungen von Frauen wurden laut Federici gerechtfertigt durch die Erfindung der verrückten, bösartigen Hexe, vor der die Bevölkerung geschützt werden muss.

„More important, in instigating the witch-hunt, was the need of the European elites to eradicate an entire mode of existence […]. When this task was accomplished – when social discipline was restored and the ruling class saw its hegemony consolidated – witch trials came to an end.“ (Federici 229)

Die Prozesse der Hexenverfolgung stehen nach dieser Argumentation im direkten Zusammenhang mit dem Schutz der eigenen Macht und der Steigerung des Profits durch den Staat und die Kirche. Die Unterdrückung von Frauen hatte demnach eine ökologische Dimension, da sie wesentlich den Ausbau des Kapitalismus unterstützte. Im Verlauf der Entstehung des Kapitalismus wurden Weiblichkeit und Sexualität attackiert (Chattopadhyay 161). Folglich ist die damalige Verfolgung von Frauen politischer Natur mit dem Ziel, sie zu unterdrücken oder zu exekutieren. Deswegen ist die veränderte Rolle der Frau besonders wichtig, um die politischen Veränderungen sowie die Verbindung zwischen Kapital und weiblichem Körper zu verstehen (Chattopadhyay 165).


Ursprüngliche Akkumulation

Der Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ wurde vor allem von Marx geprägt, um den Prozess zu beschreiben, durch den der Kapitalismus innerhalb eines kurzen Zeitraumes einen großen Einfluss bekommen hat. Akkumulation ist in seinem Werk Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie von 1920 als „Anhäufung“ und „ständige Vergrößerung“ definiert, was Marx als Kernelement des Kapitalismus betrachtet (Marx 144). Wichtig ist die Hypothese, dass die Akkumulation nicht durch den Kapitalismus entstanden ist, sondern der Kapitalismus durch die ursprüngliche Akkumulation (Marx 184).

„From this viewpoint, primitive accumulation has been a universal process in every phase of capitalist development. Not accidentally, its original historic exemplar has sedimented strategies that, in different ways, have been re-launched in the face of every major capitalist crisis, serving to cheapen the cost of labor and to hide the exploitation of women and colonial subjects.“ (Federici 10)

Federici greift den Gedanken auf, denn auch sie sieht die ursprüngliche Akkumulation als essentiell an, um die Entstehung des Kapitalismus zu verstehen. Doch im Gegensatz zu Marx betrachtet Federici ursprüngliche Akkumulation nicht nur in Bezug auf das männliche Proletariat. Ihr wichtigster Punkt ist, dass die ursprüngliche Akkumulation die soziale Position von Frauen ändert. Statt eine Rolle auf dem Arbeitsmarkt zu haben, werden sie in die Haushalte gedrängt und von Männern abhängig gemacht. Kombiniert mit der Entfremdung der Körper haben die ersten Anfänge des Kapitalismus für Federici negative Auswirkungen auf die gesamte Bevölkerung. „Thus, primitive accumulation has been above all an accumulation of differences, inequalities, hierarchies, divisions, which have alienated workers from each other and even from themselves.“ (Federici 136) Das beweist, dass der Kapitalismus in seiner Entstehung nicht geprägt war von Reichtum und Fortschritt, sondern vor allem von Diskriminierung und Ausbeutung.


Die Hausfrau

Die zentrale These am Anfang und Ende von Caliban and the Witch ist, dass die Hexenverfolgungen bis heute Auswirkungen haben. Vor allem „the creation of the full-time housewife“ (Federici 78) im 19. Jahrhundert zeigt für Federici Meinung den Höhepunkt der Degradierung von Frauen. Der Grund für die anhaltenden geschlechtlichen Rollen ist darin zu sehen, dass der weibliche Körper noch immer eine Grundvoraussetzung für die Akkumulation von Arbeitskraft und Reichtum darstelle (Federici 10, 11). Die Entwicklungen der Frühen Neuzeit sind nicht Teil der Vergangenheit, ihr Einfluss auf die Gegenwart ist allgegenwärtig: Im letzten Jahrzehnt wurden wir wieder Zeugen von neuen Attacken auf Rechte der körperlichen Selbstbestimmung und Reproduktion, was zeigt, dass der Kapitalismus als sozial-ökonomisches System eindeutig mit Rassismus und Sexismus paktiert (Daskalaki 1648). In dem Zusammenhang ist besonders Federicis These interessant, dass Parallelen zwischen der Behandlung von Frauen in den Kolonien und Europa bestehen. Diese Parallelen beweisen, dass der Kapitalismus auf eine bestimmte Art und Weise vorgeht, denn die Entstehung des Kapitalismus ist ein gewalttätiger Prozess (Federici 61). Deswegen ist es entscheidend, die Vergangenheit nicht als statisch, sondern dynamisch zu betrachten. Die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft hat für Federici ihren Ausgangspunkt in der Entstehung des Kapitalismus, der Reduzierung auf den eigenen Körper und der gezielten Verfolgung von politisch Andersdenkenden. Die Hexenverfolgung muss thematisiert werden, nicht nur für eine umfassende Geschichtsschreibung, sondern vor allem für ein Verständnis des Wesens des Kapitalismus (Laibman 577). In einem Interview sagt Silvia Federici dazu: „If we don’t make the past count, we cannot make the present count.“ (Austin 135)


Fazit

Um zu meiner Ausgangsthese zurückzukehren, lässt sich also sagen, dass Federici die Geschichte des Kapitalismus betrachtet und dabei einen besonderen Fokus auf die Rolle der Frau legt. Sie schafft komplexe Verbindungen zwischen den einzelnen Argumenten, wodurch die Vielschichtigkeit des Kapitalismus deutlich wird. Es ist notwendig, die Unterdrückung der Frau als Voraussetzung der ursprünglichen Akkumulation zu betrachten, um zu verstehen, dass dieser Prozess noch heute stattfindet. Auf Kosten von Frauen wird Kapital erwirtschaftet, doch erhält beispielsweise Care-Arbeit weiterhin keine bis wenig gesellschaftliche Anerkennung und kommt für viele Frauen zur regulären Lohnarbeit hinzu . Deswegen müssen die Hintergründe der Entwicklungen offengelegt werden, damit das System des Kapitalismus als das gesehen werden kann, was es ist: ein System der Diskriminierung und Ausbeutung. Kapitalismus ist nicht die Wurzel allen Übels, doch hat nachweislich patriarchale Strukturen verstärkt. Mit ihrem Ansatz zeigt Federici, dass eine transparente Geschichtserzählung wichtig ist, um mit aktuellen Problemen der Unterdrückung umzugehen. Repression ist keine Erfindung des modernen Zeitalters, sondern prägt bereits seit Jahrhunderten die Geschichte der Menschheit.

Zitierte Literatur

  • Austin, Arlen. „Times of Dispossession and (Re)possession: An Interview with Silvia Federici“. The Drama Review, Bd. 62, Nr. 1, 2018, S. 131–142.
  • Daskalaki, Maria. „The Subversive Potential of Witchcraft: A Reflection on Federici’s Self-Reproducing Movements“. Gender, Work & Organization, Bd. 28, Nr. 4, 2021, S. 1643–1660.
  • Chattopadhyay, Sutapa. „Caliban and the Witch and Wider Bodily Geographies“. Gender, Place & Culture, Bd. 24, Nr. 2, 2017, S. 160–173.
  • Federici, Silvia. Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation. Penguin Modern Classics, 2021.
  • Laibman, David. „Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation, by Silvia Federici“. Science & Society, Bd. 70, Nr. 4, 2006, S. 576–579.
  • Marx, Karl. Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Verlag der Lichtstrahlen, 1920.
  • Menzel, Annie. „Tempestuous Maternities: Plotting Gender and Genre with Sylvia Wynter and Silvia Federici“. Theory & Event, Bd. 26, Nr. 1, 2023, S. 99–127.

Weiterführende Literatur

  • De l’Horizon, Kim. Blutbuch. DuMont, 2022.
  • Fortunati, Leopoldina. The Arcane of Reproduction: Housework, Prostitution, Labor and Capital. Autonomedia, 1995.
  • Linebaugh, Peter. The London Hanged: Crime and Civil Society in the Eighteenth Century. Verso, 2003.
  • Mies, Maria. Patriarchy and Accumulation on a World Scale: Women in the International Division of Labour. Zed Books, 1986.
  • Vogel, Lise. Marxism and the Oppression of Women. Brill, 2013.

Empfohlene Zitierweise

Marike Stern: [Art.] Silvia Federici. In: Online-Enzyklopädie der Frauen in der Theoriegeschichte. Hrsg. von Marília Jöhnk. URL: https://theoriespuren.de/artikel/silvia-federici/ [Datum des letzten Abrufes].