Steckbrief
- Name: Monique Wittig
- Lebensdaten: 1935-2003
- Bekannteste Werke: The Straight Mind; L’Opoponax; Les Guérillères
- Themen: Feminismus, Geschlechterkategorien, Materialismus
- Sprachkultur: Französisch, Englisch
- Schlagworte: Gender, Kulturtheorie, Europa, Vereinigte Staaten, Literaturtheorie
Ein Essay über Monique Wittig
„Lesbians are not women.“ (Wittig, „The Straight Mind“ 26) Mit diesem Satz, der mich persönlich absolut überrumpelte und beinahe ärgerte, beendet Monique Wittig, die sich selbst als lesbisch identifizierte, ihren Essay The Straight Mind. Als Frau, die sich ausschließlich zu Frauen hingezogen fühlt, und sich deshalb ebenfalls mit dem Wort ‘lesbisch’ identifiziert, wehrte sich alles in mir gegen diese Aussage. Denn ich persönlich bin, trotz oder gerade wegen meiner Homosexualität, sehr froh, ja sogar stolz darauf, kein Mann, sondern eine Frau zu sein. Frau zu sein ist also, wie es scheint bei mir, sowie auch bei vielen anderen queeren wie heterosexuellen Menschen, ein wichtiger Bestandteil meiner Identität. Es fühlte sich an, als wollte Wittig mir diesen Teil meiner Selbstidentifikation absprechen. Für mich passte das, was Wittig schrieb, absolut nicht zusammen. Denn laut gängiger Definition ist ja gerade die Tatsache, dass man eine Frau ist, die Frauen mag, das, was eine Lesbe ausmacht. Als ich diesen letzten Satz also las, schlussfolgerte ich, dass ich Monique Wittigs Theorie nicht präsentieren wollte. Ich schloss The Straight Mind and Other Essays, wie die Sammlung von Wittig, heißt, die ich in der Bibliothek herausgesucht hatte, aus und begann mich nach anderen Theoretikerinnen für das Projekt umzusehen. Dennoch ging ich mit der Essaysammlung zur Selbstausleihe und nahm sie mit nach Hause. Vermutlich wollte ein Teil von mir nun umso mehr wissen, was genau hinter dieser Aussage steckte, die mich so irritierte.
Bei mir zu Hause begann ich also, mich näher in Monique Wittigs Theorie einzulesen. The Straight Mind and Other Essays ist eine Sammlung von Essays, die Wittig, eine im Jahr 1935 geborene Französin, im Gegensatz zum Großteil ihrer anderen Texte, auf Englisch statt Französisch verfasst hat. Geschuldet war dies vermutlich dem Umstand, dass sie zum Entstehungszeitpunkt dieser Essays an der University of California in Berkeley lehrte. Im Sommer des gegenwärtigen Jahres hatte ich mich im Rahmen einer Uni-Hausarbeit mit dem exophonen Schreiben, also dem Schreiben in einer Sprache, die nicht die Hauptsprache einer Person ist, beschäftigt. Das machte diese Essaysammlung von Wittig umso faszinierender für mich. Es war ein interessantes Nebenprojekt, herauszufinden, ob Wittig die ihr nicht ganz fremde, aber auch nicht ganz eigene englische Sprache derart benutzen könnte, um mir ihre verstörende Aussage über Lesben verständlich zu machen.
Monique Wittig wurde in den 1930er Jahren im Elsass geboren und verbrachte Teile ihrer Karriere in Frankreich und in den Vereinigten Staaten, wo sie auch in den frühen 2000er Jahren verstarb. Im Gegensatz zu anderen französischen feministischen Schriftstellerinnen und Theoretikerinnen ihrer Zeit, wie Hélène Cixous, Luce Irigaray oder Julia Kristeva, galt Wittigs Arbeit nicht dem Ziel, das Frausein als etwas Positives (zurück) zu erobern. Anders als die écriture féminine wollte Wittig das Konzept von Geschlecht komplett verwerfen (Wittig, „The Category of Sex“ 12). In diesem Sinne war sie definitiv eine Vorreiterin für die Theorien Judith Butlers, die ihre Ideen zum Thema Gender in den 1990er Jahren veröffentlichte und sich dabei mehrfach auf die Arbeit von Wittig bezog (Szymanski 552). Eine wichtige Theorie, die Wittig kritisiert, und aus der sie aber zugleich Teile ihrer tragenden Konzepte entwickelte, ist der materialistische Marxismus nach Marx und Engels (Wittig, „One Is Not Born a woman“ 18).
Wittig betrachtet die Kategorien von Geschlecht, die in unserem Denken allgegenwärtig sind, nicht als etwas Naturgegebenes, das von vornherein existiert, und der Grund für die Unterdrückung der geschlechtlichen Kategorie Frau ist. Stattdessen sei dies nur etwas, das die männlichen Unterdrücker den „Frauen“ über Jahrhunderte glaubhaft gemacht hätten (Wittig, „The Category of Sex“ 13). Wittigs Theorie der Geschlechterkategorien dreht diesen Gedanken komplett um und besagt, dass die Einteilung der Menschheit in Geschlechter nicht die Ursache, sondern ein Ergebnis der patriarchalen Unterdrückung sei (Wittig, „The Category of Sex“ 13). Aus diesem Grund ist für Wittig ein signifikanter Teil der Lösung des Problems die komplette Auflösung dieser Geschlechtskategorien. Konfrontiert mit diesem Vorschlag, fühlte ich, wie sich mein Inneres erneut dagegen sträubte, was im Endeffekt nochmals beweist, wie tief verankert diese geschlechtliche Komponente der Identität in vielen Menschen ist.
In einem nächsten Schritt verkündet Wittig, dass diese, uns von den Unterdrückenden aufgezwungene, Kategorie „Geschlecht“ unsere Gesellschaft als heterosexuell etabliert (Wittig, „The Straight Mind“ 22). Dass Heterosexualität nach wie vor als Norm gilt und unsere Gesellschaft in vielen Bereichen darauf ausgelegt ist, weiß ich natürlich als jemand, der nicht nach dieser Norm lebt.
Die Heterosexualität unserer Gesellschaft betrachtet Wittig als grundlegendes Problem, weil dieses Konzept von Zugehörigkeit des männlichen und weiblichen Geschlechts (oder besser gesagt des weiblichen zum männlichen Geschlecht), Frauen für die Reproduktion verantwortlich macht : „The compulsory reproduction of the ‘species,’ by women is the system of exploitation on which heterosexuality is economically based on.“ (Wittig, „The Category of Sex“ 13). Aus diesem Glauben ergebe sich wiederrum die Betrachtung der Kategorie Frau als verknüpft mit Sex(ualität), was die stetige Degradierung von Frauen zum Sexualobjekt zur Folge habe. Die Kategorie Frau mit all ihren typischen Attributen sei ein reiner Mythos geschaffen von Männern. Von diesem müssen wir uns laut Wittig unbedingt befreien. All die genannten Denkmuster über Geschlecht, die der (heterosexuellen) Gesellschaft zugrunde liegen, hervorgerufen durch patriarchale Strukturen, bezeichnet Wittig als „the straight mind“, übersetzt also das straighte Denken.
Ihren Grundannahmen folgend betrachtet Wittig Frauen nicht als naturgegebene, abgrenzbare Gruppe von Menschen, sondern als eine von Männern etablierte Klasse im marxistischen Sinne (Wittig, „One is not born a woman“ 17). Wittig arbeitet viel mit Konzepten aus der Theorie von Marx und Engels. Sie baut darauf auf, kritisiert aber auch Schwachpunkte und entwickelt das Denken vom Kampf der sozialen Klassen zum Kampf der Geschlechter-Klassen weiter (Wittig, „The Category of Sex“ 12-14). Lesbische Frauen betrachtet Wittig in diesem Sinne als aus der Klasse oder Geschlechtskategorie ‘Frau’ Geflüchtete (Wittig, „One Is Not Born a Woman“ 19). Wittig bezeichnet die Mann-Frau Relation als eine „master-slave“ Dynamik und weist darauf hin, dass eine solche Beziehung nur durch die unterdrückende Partei zustande kommt: „no slaves without masters“ (Wittig, „The Category of Sex“ 11). In diesem Sinne schlussfolgert sie, dass lesbische Frauen in ihrer Frau-Frau Beziehung keiner „master-slave“ Dynamik unterliegen und somit dem Mythos von „Frau“, wie er von Männern konstituiert wird, nicht entsprechen:
„Lesbian is the only concept I know of which is beyond the categories of sex (woman and man), because the designated subject (lesbian) is not a woman, either economically, or politically, or ideologically. For what makes a woman is a specific social relation to a man, a relation that we have previously called servitude, a relation which implies personal and physical obligation as well as economic obligation.“ (Wittig, „One Is Not Born a Woman“ 19)
Wittig bezieht sich in ihrem Statement „Lesbians are not women“ demnach auf die Definition von „woman“, also Frau, im Unterdrückungsverhältnis. In diesem Sinne bin ich wohl tatsächlich keine Frau. Der Gedanke gefiel mir plötzlich.
Auf der Grundlage ihrer Überlegungen entwickelt Wittig in ihren neun Essays in The Straight Mind and Other Essays vielerlei weiterführende Gedanken, die aufzeigen, was sich ändern müsste, um das straighte Denken zu überwinden. Als eine wichtige, wenn auch noch utopisch erscheinende Maßnahme, um eine Umstrukturierung der geschlechterbasierten Gesellschaft zu bewirken, benennt Wittig ein neues Reproduktionssystem, welches weibliche Menschen nicht länger zu seinen Zwecken ausnutzt.
Ein grundlegendes Problem, das laut Wittig, die frauenunterdrückende Ordnung der Gesellschaft aufrechterhält, ist außerdem das Einfließen von Geschlecht in unsere Sprache. Da Sprache ein essenzielles, realitätserzeugendes Medium sei, müsse ein Weg gefunden werden, um geschlechtlich markierte Worte, konkret gesagt Personalpronomen, geschlechtlich neutral zu machen. Wittig verweist diesbezüglich auf bereits existierende geschlechtlich neutrale Pronomen wie das französische „on“ oder das Englische „one“ (Wittig, „The Mark of Gender“ 51). Ein deutsches Äquivalent gibt es leider nicht, weil die naheliegende Übersetzung „man“ aus offensichtlichen Gründen absolut geschlechtlich geprägt ist. Wittig, die nicht nur Theoretikerin, sondern auch Autorin war, hat in ihren literarischen Werken mehrfach versucht, Welten zu kreieren, in denen ein Umbruch des straighten Denkens stattfindet oder bereits stattgefunden hat. Auch alternative Personalpronomen spielen hierfür eine große Rolle. Wittigs literarisches Debüt L’Opoponax steht prompt auf meiner Leseliste für die nächsten Semesterferien.
Obwohl Wittig ein Konzept von Geschlecht entwickelte, auf dem maßgebliche Werke der Gender Studies und Queer Theory beruhen, ist ihr Name weniger bekannt als der von anderen Theoretiker*innen. Aufbauend auf der Prämisse von Simone de Beauvoir, dass Geschlecht ein kulturelles Konstrukt sei, entwickelt Wittig ihr Anliegen, dieses künstlich geschaffene Konstrukt abzuschaffen (Shaktini 2). Spätere Theoretiker*innen wie Judith Butler beschäftigten sich durchaus mit der Theorie Wittigs, kritisierten diese jedoch auch bezüglich ihrer Anwendbarkeit für heterosexuelle Feministinnen (Szymanski 552).
„Lesbians are not women.“ (Wittig, „ The Straight Mind“ 26). Für mich ist dieser Satz nicht länger irritierend, sondern etwas dem ich, in der Art wie Wittig es meint, zustimmen kann. Was ursprünglich die größte Irritation auslöste, war vermutlich die von mir äußerst binär gedachte Schlussfolgerung: Wenn ich nicht Frau bin, muss ich Mann sein. Durch Wittig kann ich dem jetzt einige Argumente entgegensetzen. Es gefällt mir sehr als Lesbe außerhalb des patriarchalen Mythos von ‘Frau’ zu leben und der Gedanke, dass das vielleicht irgendwann alle Menschen können (ob lesbisch oder hetero oder was auch immer), scheint mir zwar utopisch, aber höchst erstrebenswert.
Zitierte Literatur
- Shaktini, Namascar (Hrsg.): On Monique Wittig: Theoretical, Political, and Literary Essays, University of Illinois Press, 2005.
- Szymanski, J.A. “Re-reading Monique Wittig: Domination, Utopia, and Polysemy,” Hypatia 38.3, 2018, S. 549-571.
- Wittig, Monique. The Straight Mind and Other Essays. Boston: Beacon Press 1994.
Weiterführende Literatur
- Bourier, Marie-Hélène. Parce que les lesbiennes ne sont pas des femmes: Autour de l’œuvre politique, théorique et littéraire de Monique Wittig, Éditions Gaies et Lesbiennes, 2002.
- Butler, Judith. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, Routledge, 1990.
- Cardieu, Morgane (Hrsg.). Lesbian Materialism: the Life and Work of Monique Wittig, Yale University Press, 2023.
- Shaktini, Namascar (Hrsg.): On Monique Wittig: Theoretical, Political, and Literary Essays, University of Illinois Press, 2005.,
- Wittig, Monique. Le Corps lesbien, Minuit, 1973.
Empfohlene Zitierweise
Sophia Wiemann: [Art.] Monique Wittig. In: Online-Enzyklopädie der Frauen in der Theoriegeschichte. Hrsg. von Marília Jöhnk. URL: https://theoriespuren.de/artikel/monique-wittig/ [Datum des letzten Abrufes].