Steckbrief
- Name: Elizabeth Duval
- Lebensdaten: *2000
- Bekannteste Werke: Después de lo trans. Sexo y género entre la izquierda y lo identitario (2021) , Übers: Nach Trans. Sex, Gender und die Linke (2023)
- Themen: Feminismus, Queer, Trans
- Sprachkultur: Spanisch
- Schlagworte: Gender, Soziologie, Kulturtheorie, Europa
Nach dem Lärm: Nach Trans
Warum sollte man Nach Trans, eine Untersuchung über die philosophische und politische Bedeutung trans zu sein, lesen? Und vor allem: Warum und mit welchem Recht sollte jemand wie ich das Buch von Elizabeth Duval kommentieren? Ich bin keine Transperson, und auch mit keiner Transperson persönlich befreundet. Vielleicht denken Sie, dass ein Cis-Mann ohne direkte persönliche Verbindungen nicht über das Thema trans schreiben sollte, dass Stimmen von Transmenschen in der Debatte Vorrang haben sollten. Oder vielleicht ist es Ihnen egal und Sie denken, dass jede Person eine Meinung haben darf und sie entsprechend bei Bedarf äußern kann, denn kritische Meinungen werden häufig in der öffentlichen Debatte gecancelt. Ich habe einen einfachen Grund gehabt, diesen Essay zu schreiben: Mit Nach Trans hat sich mein Verständnis über das Thema trans erweitert. Ich wollte die Argumente der gesellschaftlichen Debatte mit einer gewissen Tiefe verstehen, um, wenn notwendig, mich mit anderen Menschen informierter zu unterhalten. Vielleicht legen auch Sie darauf Wert. Wenn ja, würde ich gerne mit Ihnen teilen, was ich in diesem Buch gefunden habe.
Elizabeth Duval zeigt in Nach Trans, wie man polemische Meinungen zum Thema trans aufarbeiten und diskussionsfähig machen kann. Sie cancelt nicht, sondern debattiert offen über komplexe Fragen. Wegen der umfangreichen Analyse und situativ-bewussten Erzählweise finde ich Duvals Essay erhellend und produktiv für eine offene Debatte über gesellschaftliche Reaktionen um den Begriff trans. Denn Duvals Thesen stehen, meiner Meinung nach, in Verbindung mit der aktuellen Transdebatte in Deutschland. Genau diese Verbindung werde ich in diesem Text nachvollziehen, indem ich wichtige Punkte der deutschen Transdebatte erläutere und diese anhand von Duvals Argumenten kommentiere. Nach Nach Trans kann ich nur hoffen, dass nach dem Lärm ein Gespräch stattfindet, und zwar ein informiertes und rücksichtsvolles.
Die aktuelle Transdebatte in Deutschland
Am 13. November 2024 strahlte unbubble, ein Diskussionsforum im ZDF eine Sendung rund um die Frage aus: „Schadet das Selbstbestimmungsgesetz?“ (Selbstbestimmungsgesetz: Trans* Mann Trifft Feministin). Luka Hauptmann, content creator und Trans*Mann, beantwortet die Frage dezidiert mit „nein“. Seine Gesprächspartnerin, die Psychotherapeutin und Feministin Ingeborg Kraus ist anderer Meinung, moderiert wurde die Sendung von Jo Schück und Salwa Houmsi.
Am ersten November desselben Jahres ist in Deutschland das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz in Kraft getreten (Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag oder SBGG), ein Gesetz des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das an der Stelle des Transsexuellengesetzes (TSG) von 1980 die Änderung des Geschlechtseintrags im Personenregister vereinfachen soll. Ziel des von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagenen Gesetzes war die amtliche Geschlechtsänderung für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen juridisch zu würdigen – ohne Gutachten, Untersuchungen oder Gerichtsbeschlüsse – und finanziell erschwinglicher zu gestalten.
Rechtlich gesehen konnten sich Gesetze für die Gleichstellung der Geschlechter (und diverser Geschlechtsidentitäten) in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern in den letzten Jahren etablierten und konsolidieren: die „Ehe für alle“, die „dritte Option“, „Selbstbestimmung“ – allesamt Gesetze, die auf politischer und sozialer Ebene heftig diskutiert worden sind.
In diesen Diskussionen, angeheizt durch die politische Rechte, werden häufig emotionale Angstreaktionen ausgetauscht für Argumenten auf einer epistemischen und politischen Ebene. Solche Diskussionen werden insbesondere in sozialen Medien geführt. Auch Teile der Gesellschaft, die man mit der politischen Linken assoziieren würde, die sich meist als Alliierte vom Transmenschen verstehen, erscheinen nicht immer mit einer geschlechtlich bunteren Gesellschaft konform. So sagt die Feministin Ingeborg Kraus: „Transfrauen sind keine Frauen. Das ist eine Tatsache“ (Selbstbestimmungsgesetz: Trans*Mann trifft Feministin). Eine Aussage, die äußerst verletzend für Transmenschen sein kann und sich nicht an wissenschaftlichen Fundamenten, weder medizinischer noch soziophilosophischer Art, stützt.
Tatsache ist, dass diese Position sich nicht nur im Rahmen einer Fernsehkulisse widerlegen lässt (wie Luka Hauptmann sofort deutlich erwidert: „Transmenschen existieren“). Auch die spanische Philosophin und Schriftstellerin Elizabeth Duval (geboren im Jahre 2000 in Alcalá de Henares) hat sich damit während ihrer jungen Jahren beschäftigt und hat am Ende „die Schnauze voll von trans“ (Duval 23) gehabt. Hierzu schrieb sie einen umfassenden Essay: Después de lo trans, publiziert in Spanien im Jahr 2021, als die sogenannte Ley Trans (Transgesetz) durch die Sozialdemokraten und Podemos auf den Weg gebracht wurde. Die deutsche Übersetzung von Louisa Donnenberg erschien bei Wagenbach im Jahr 2023 mit dem Titel Nach Trans, als das Selbstbestimmungsgesetz im Deutschen Bundestag debattiert wurde. Auf den ca. 300 Seiten können Leser*innen Argumenten finden, die der Aussage von Trans*Mann Luka Hauptmann zustimmen, aber auch darüber hinausgehen.
Die sogenannte Transdebatte ist nicht nur durch den Versuch, gerechtere Gesetze für Transmenschen zu schaffen entstanden, sondern auch durch den Widerstand, der von konservativen Teilen der Gesellschaft diesbezüglich geäußert wurde. Ein Beispiel dafür ist die Reaktion der Partei Alternative für Deutschland (AfD) während der Debatte über das Selbstbestimmungsgesetz. Am 15. November 2023 stellte die Bundestagsfraktion der AfD einen Antrag: Die AfD wolle das seit 1980 bestehende „Transsexuellengesetz erhalten und den Schutz von Menschen mit Geschlechtsdysphorie verbessern“. Begründet wurde das mit der Behauptung, dass „Transidentität“ zunehmend als Selbstdiagnose von Menschen in Lebenskrisen gewählt werde. Viele Patienten, heißt es im Antrag, seien der „irrigen Auffassung“, dass körperverändernde Maßnahmen „ein Wundermittel“ für ihre Lebensprobleme darstellen würden (Müller). Der Antrag wurde abgelehnt; das Selbstbestimmunggesetz trat am 1. November 2024 in Kraft. Aber der Widerstand gegen gerechtere Geschlechtsgesetze bleibt bestehen: Im Wahlprogramm der Bundestagswahl 2025 nimmt sich die AfD vor „das [Selbstbestimmungs]Gesetz vollumfänglich zurückzunehmen“ (BTW 2025 Wahlprogramm).
An dem Tag, an dem ich diesen Text schreibe, einen Monat vor der Bundestagswahl 2025, prognostizieren Umfragen die AfD als zweitstärkste Kraft mit 21,5% der Stimmen (Cantow et al.)[1]. Die AfD artikuliert sich als feindliche Partei gegenüber einer politischen Position des LGBTQIA+-Kollektivs und betreibt einen „Antigenderismus“, der unter anderem das Ziel hat, Gender Studies als Fach an deutschen Hochschulen abzuschaffen. Das kann direkte Konsequenzen für die Rechte des LGBTQIA+ Kollektivs haben. Die AfD forderte im Wahlprogramm, dass „die Realität der Zweigeschlechtlichkeit wieder anerkannt werden [muss]“ (BTW 2025 Wahlprogramm), was das für die Rechte und Existenzen von Transmenschen und Nicht-Binären Personen bedeutet, wird von dieser „Realität“ vernachlässigt.
Leider wird die Transdebatte nicht nur von einer extremistischen Partei wie der AfD geführt (ich nutze hier ‘extremistisch’, denn ich bin der Meinung, dass mit deren politischen Positionen zu Transpersonen eine existentielle Bedrohung für diese besteht). Stimmen, wie die oben zitierte Psychotherapeutin und Feministin Ingeborg Kraus, kritisieren die Effekte einer „Politik der Minderheiten“, die Konsequenzen von, so die Worte von Frau Kraus, „[einer] Minderheit, die alles kaputt macht“ (Selbstbestimmungsgesetz: Trans* Mann Trifft Feministin). Für Kritik aus dem linken und rechten politischen Spektrum findet Elizabeth Duval in Nach Trans Antworten.
Nach Trans
Duvals Theorie in Nach Trans ist praktisch anwendbar, weil sie politisch gedacht wird. Als Theoretikerin arbeitet Duval genau an dem Punkt zu trans, wo Theorie auf den öffentlichen Raum trifft. Ich möchte diesem Pragmatismus folgen, um Sie, liebe*r Leser*in, mit den wichtigsten Punkten von Duvals Theorie vertraut zu machen.
Beim Lesen von Nach Trans wird deutlich, dass es sich um ein komplexes philosophisches und politisches Konglomerat von Argumenten handelt, die sich auf verschiedene Kapitel verteilen: Eine kurze Geschichte von Transsubjekten wird im ersten Teil behandelt, die Beziehung zwischen Politik und trans im zweiten, dritten und sechsten Teil (auf die vier zentralen Thesen werde ich später eingehen) sowie die Auseinandersetzung mit verschiedenen kritischen Positionen zu trans, insbesondere im vierten und fünften Kapitel. Das Buch endet mit einem philosophischen und politischen Manifest über trans, das die Erkenntnisse des Essays deutlich darstellt und zugleich anwendet. Im Kontrast zu ihrer strukturierten Argumentation ist der Ton der Autorin scharf und kritisch. Damit signalisiert Duval ihre Abneigung bezüglich der behandelten Themen. Diese Übersättigung, „die Schnauze voll von trans“ zu haben (Duval 23), artikuliert sich in zwei große Achsen, die sich verflechten und von Duval mit philosophischen Argumenten untermauert werden: die Transidentität und die Politik der Transsubjekte.
Nachdem sie in der Einleitung ihre Existenz als öffentliche Figur aufgrund ihrer Transsexualität ihrer Position als Philosophin unterordnet (entsprechend lese ich Duval hier vorrangig als Theoretikerin und nicht nur als Transperson), untersucht sie, was es bedeutet, ein Transsubjekt zu sein (Duval 33-40). Duval betont in ihrer Definition von trans das Moment der historischen Bedingtheit. Das historische Moment ist für Duval ausschlaggebend, „[denn] die Elemente, aus denen sich Geschlecht als Sprachtechnologie zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammensetzt, unterscheiden sich Epoche zu Epoche“ (Duval 48). Duval stellt eine homogene Geschichte von Transmenschen infrage und deutet auf die individuelle Qualität der Subjekte hin. Sie akzeptiert Historizität als Faktor, aber nicht als einzige Bedingung für die Bildung des Subjektes. Die Subjektivität der Transpersonen ist für Duval zentral: Transmenschen waren und sind keine homogene Masse von Personen, denn Transsubjekte unterscheiden sich nicht auf einer individuellen und historischen Ebene, sondern auch auf einer politischen und sozioökonomischen. Für Duval sind Transsubjekte vor allem Individuen und konstituieren per se keinen Kollektiv (was aber nicht hindert, dass Individuen ein Kollektiv bilden können).
Ausgehend von der konstitutiven Existenz von Transsubjekten stellt sich Duval gegen eine politische Haltung in Fragen geschlechtlicher Selbstbestimmung. Für sie gibt es keine Selbstbestimmung, denn für Transmenschen ist es entscheidend für ihre Existenz, trans zu sein (Duval 51-52). Es ist wichtig zu verstehen, dass es hier sich nicht um eine Verneinung der Rechten für Transmenschen handelt, sondern um die Gewissheit, dass die Notwendigkeit eines Subjektes sich innerhalb des Geschlechtssystems zu positionieren, eine individuelle ist: „Wäre es mir möglich, keine Frau zu sein, dann wäre ich keine. Es ist nun einmal so, dass ich mir aus Gründen, die sich mir entziehen und die ich mir nicht ausgesucht habe, nicht vorstellen kann, in der Gesellschaft, in der ich lebe, als etwas anderes zu leben, denn als Frau“ (Duval 57). Um das Subjekt im Bereich des Geschlechts zu konstituieren, plädiert Duval für ein politisches Programm: „das Erlente und Internalisierte zurückzuweisen (die Bedeutung der Negation ist riesig) und sich trotzdem als Subjekt konstituieren“ (Duval 58). Duval betont damit die Unmöglichkeit, sich alle Faktoren bewusst zu machen, welche die Bestimmung des Geschlecht beeinflussen, verlangt aber die Handlungsfähigkeit („agencia“) von Subjekten, sich selbst zu definieren und zu konstituieren.[2]
Duval nimmt sich Raum, um den sogenannten „Anti-Trans-Diskurs“ zu demontieren: Es werden Perspektiven des philosophischen Feminismus in Spanien (artikuliert im Werk von Amelia Valcárcel, Celia Amorós, Luisa Posada Kubissa oder Ana de Miguel) kommentiert und kritisiert. „Um zu einer trans-ausschließenden Position zu gelangen,“ schreibt Duval „muss man soziale beziehungsweise strukturelle Phänomene mit ihren Auswirkungen auf die Individuen verwechseln, da man Wahlfreiheit und freiem Willen, kurz gesagt, übertriebene Macht zuspricht und kenntnislos ganze Kollektive beschuldigt, ausgehend von Intentionen zu handeln, die wenig mit dem zu tun haben, was die Individuen als Motive ihres Handelns benennen würden“ (Duval 82).
Duval analysiert trans auch als Begriff, der die „Sprachtechnologie“ des Geschlechtssystems herausfordert (Duval 49, 101, 211) . Dies erscheint mir besonders wichtig in der deutschen Sprache, wo es keine einfache Unterscheidung zwischen „sex“ („sexo“) und „gender“ („género“) gibt. Die Schwierigkeit, identische Begriffe zu finden, kann die Diskussion im deutschen Raum erschweren: „sex“ wird häufig als biologisches Geschlecht übersetzt, während für „gender“ der Begriff Geschlechterrolle angewendet wird. Darüber hinaus wird der Begriff Geschlechtsidentität angewendet, was genau Duvals Position widerspiegelt, denn biologisches Geschlecht ist für sie eine iterative und performative Konsequenz für alle Menschen, die sich innerhalb des Geschlechtssystems positionieren (und das sind wir alle). Die Vorstellung von „Sprachtechnologie“ ist in diesem Sinne wichtig, weil sie es uns ermöglicht, über die komplexen Nuancen innerhalb des Geschlechtssystems zu reden und sie zu verstehen.
Auf Judith Butlers Vorstellung von der Performativität des Geschlechts zurückgreifend, argumentiert Duval mit Worten der Theoretikerin Cynthia Kraus, um zu erläutern, dass „[die] Biologie des Geschlechts [sex]” sehr viel plastischer sei als die „Gender-Politik.“ (Duval 85). Auf diesen Punkt kommt Duval mehrfach zurück, um einen Mittelweg für zwei wichtige Positionen in der Transdebatte zu finden: Erstens unterstreicht sie die politische Komponente nicht nur des sozialen Geschlechts (gender), sondern auch der Konstruktion des biologischen Geschlechts (sex). Zweitens akzeptiert sie eine Art Dualismus der Geschlechter zwischen Mann und Frau, die, ihrer Meinung nach, auch wenn sie ausdehnbar sind, auf einer sozialen und politischen Ebene als Teil einer „Sprachtechnologie“ noch über eine lange Zeit nutzbar werden (Duval 83-89).
Wie bereits erwähnt, arbeitet Duval in Nach Trans mit vier zentralen Konzepten. Diese orientieren sich in Form und Inhalt an der feministischen Arbeit der Philosophin Teresa de Lauretis in Technologies of Gender. Lauretis stützt sich auf Foucaults Begriff der Geschlechtertechnologien, um einen Begriff für Geschlechtsidentitäten zu entwickeln (Duval 104). Duval baut ihre eigenen Thesen auf denen von Lauretis auf, um ihre eigenen Postulate über das Transsein zu formulieren. Meiner Meinung nach kann Duvals trans Wende der Argumentation produktiv für die deutsche Transdebatte sein. Ich fasse sie hier in verkürzter Fassung aus der deutschen Übersetzung zusammen:
„1. Trans bedeutet eine symbolische und imaginäre Verschiebung – was nicht heißt, dass es keine realen oder konkreten Auswirkungen auf das materielle Leben der Menschen hätte“ (Duval 104).
„2. Die mit dem Wort trans beschriebene Verschiebung bedeutet eine Modifikation der Konstruktion der Geschlechter, die in einem viel umfassenderen Sinne sprechen als in dem des Übergangs“ (Duval 104).
„3. Trans-Verschiebungen oder Trans-Ströme finden heute auf eine ganz in unsere Zeit eingebettete Weise statt, die wir auch historisierend behandeln müssen, denn Körpertechnologien und (biopolitische) Modifikationsmöglichkeiten unterscheiden sich von anderen Epochen“ (Duval 104-105).
„4. Paradoxerweise wird die Konstruktion von Geschlecht im Fall von Subjekten, die eine Verschiebung vollzogen haben, auch durch die Diskurse um trans oder Non-Binarität selbst, zu untergraben oder abzuschaffen versucht“ (Duval 105).
In der ersten These verbindet Duval trans mit einer Symbolik innerhalb des Geschlechtssystems. Wie Lauretis greift sie auf die Kehrseite der Performativität zurück, das heißt Geschlecht als Darstellung. Trans steht hier für eine Bewegung, eine Verschiebung, eine Ausdehnung der imaginären Grenzen. Die Ebene der Verschiebung ist symbolisch (Elizabeth Duval folgt hier der Interpretation von Lacan), hat aber auch eine materielle Wirkung auf Menschen. Die Symbolik der Verschiebung erscheint im Fall von trans in unserer historischen Zeit so stark, dass die materielle Wirkung nicht nur auf individueller Ebene auftritt, sondern auch soziale und politische Reaktionen hervorruft.
Duval schreibt Lauretis zweite These neu, in der die Autorin Butlers Performativität der Geschlechter zeigt: Die Darstellung der Geschlechter ist zugleich deren Konstruktion. Hier erkennt Duval, dass diese symbolische „Verschiebung“, eine „Modifikation der Geschlechter bedeutet“ (Duval 104). Wie oben erwähnt, impliziert dies eine Ausdehnung der Grenzen des Geschlechts auf eine soziale, politische und sprachtechnologische Ebene. Die Konsequenz der Trans-Bewegung ist für Duval die Rekonstruktion des Geschlechtssystems, das nicht nur auf die Dichotomie Mann-Frau oder auf die medizinische Transition beschränkt ist. Trans modifiziert das Geschlechtssystem für die Gesellschaft als Ganzes.
Duvals dritte These unterstreicht die bereits thematisierte historischen Komponente, die die Entwicklung von trans Tendenzen („Strömen“) und deren Wirkung beeinflusst. Lauretis betonte in Technologies of Gender, dass Geschlechtskonstruktion ein dynamischer Prozess ist. Duval baut auf Lauretis Idee der dynamischen Konstruktion in historischen Zeiten auf, denn für sie ist der historische Kontext entscheidend. Duval kombiniert hier die symbolische Bewegung im lacanschen Sinne mit einem philosophischen Materialismus. Für sie kann die trans Verschiebung nur anhand spezifischer, materieller und historischer Gegebenheiten stattfinden. Ohne ausreichende sprachliche, soziale und medizinische Technologien, würde die Verschiebung der Grenzen des Geschlechtssystems an Wirkung und Kraft verlieren.
In ihrer vierten These erläutert Duval ein Paradox, das bereits in Lauretis‘ Postulat auftauchte: Die Geschlechtskonstruktion findet auch in deren Dekonstruktion statt (Duval 105). Duval argumentiert, dass Transsubjekte, „die eine Verschiebung vollzogen haben“, das Geschlechtersystem dekonstruieren, es zugleich herausfordern und gleichzeitig in dieses integriert werden, weil sie sich innerhalb desselben positionieren müssen. Sie schlussfolgert (ohne es positiv noch negativ zu bewerten), dass sich nichts außerhalb des Geschlechtersystems befindet. Unsere Sprach- und Sozialtechnologie ist ihrer Meinung nach noch nicht ausreichend entwickelt, um das Geschlechtersystem zu überwinden. Die Konsequenz ist, dass sich weder materielles Verhalten noch theoretische Diskussionen außerhalb des Geschlechtersystems bewegen können und dass sie dieses stets modifizieren.
Dank Duvals theoretischen Erkenntnissen können wir jetzt die Aussagen der Anti-Trans Feministin Ingeborg Kraus in der ZDF-Sendung erneut betrachten. Sie meinte, dass Transmenschen eine Minderheit darstellen, „deren Ansprüche alles kaputt [machen, A. R. C.]“ (Selbstbestimmungsgesetz: Trans* Mann Trifft Feministin). Für Duval fordert trans gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht heraus. Dennoch, und dies ist ein wichtiger Unterschied, muss es nicht unbedingt eine zentrale Rolle für die Transdebatte spielen, weil der Begriff trans „kein demografisch oder soziologisch kohärentes Kollektiv“ beschreibt (Duval 111). Genau das Fehlen einer demografischen, ja sogar kollektiven Kohärenz der Personen, die sich als trans bezeichnen, ist für Duval essenziell. Eine vermutete Homogenität des Kollektivs würde dann individuelle, soziale und politische Unterschiede löschen, die Transmenschen vom Rest der Gesellschaft absondern, um lediglich deren Situation von der Perspektive der Geschlechtsidentität zu betrachten. Duval findet eine solche Absonderung unzulässig, denn für sie ist trans nur als „Adjektiv“ wirksam und keine vom Menschen trennbare Kategorie:
„Wenn ich zuvor gesagt habe, dass der Begriff trans nur als Adjektiv Sinn ergeben kann, werde ich nun versuchen, das etwas nuancierter darzulegen: Der Begriff trans ist nicht in der Lage ein demographisch oder soziologisch kohärentes Kollektiv zu beschreiben. Ältere trans Menschen, die auf der Straße leben, und trans Jugendliche, die relativ normal leben, die einer gewissen Norm entsprechen oder das Passing erreichen, können nicht gleichgesetzt werden“ (Duval 111).
Transmenschen wären auch vor allem Menschen, die aus verschiedenen individuellen Gründen eine soziale Rolle annehmen müssen (oder durch andere Menschen dazu gedrängt werden, diese Rolle einzunehmen), die ein normatives Geschlechtersystem herausfordern; und dennoch wäre das ‚Trans-Sein‘ nur eine Qualität wie auch viele andere Eigenschaften der Menschen. Trans zu sein sollte nicht bedeuten, dass der Rest übersehen wird oder dass Menschen deswegen vom Rest abgesondert werden (Duval 114).
Auf Basis dieser philosophischen Auseinandersetzungen formuliert Duval schließlich die Thesen des Schlusskapitels Nach Trans. Für sie ist „trans der Signifikant einer Bewegung innerhalb dieses Systems“ (Duval 211). Deswegen interpretiert sie trans als eine Bewegung in Bezug auf die Gegenwart und auf die Vergangenheit. Da wir bereits die besondere Rolle der Vergangenheit (Historizität) behandelt haben, erläutere ich hier Duvals Interpretation über die Gegenwart. Sie findet, dass „man trans [ist], weil man sich in einem nicht oder noch nicht ganz abgeschlossenen Prozess des Übergangs befindet, weil man die politische Entscheidung getroffen hat, sich als trans zu bezeichnen und weil es unmöglich ist, den Prozess des Übergangs unsichtbar zu machen“ (Duval 212).
Für Duval taugt trans „nicht als politisches Instrument, auch nicht als soziologisches oder als Analysebegriff“ (Duval 215). So entmystifiziert sie den Lärm um den Begriff trans, indem sie ihn bis zu seiner letzten Konsequenz untersucht. Auch wenn trans als Begriff nicht viel nützt, tragen Duvals Argumente zur Besonnenheit bei. Duval ist damit eine wichtige Stimme, die offen darüber spricht, was trans sein bedeuten kann, und wie entgegengesetzte Positionen der Debatte zu analysieren und zu dekonstruieren sind.
Endlich im Gespräch
In Elizabeth Duvals Werk Nach Trans habe ich Vieles gefunden – nicht nur Argumente für und gegen gesetzliche und gesellschaftliche Debatten über Trans-Themen, sondern vor allem eine philosophische Stimme, die sich traut, offen darüber zu sprechen. Sie zeigt Schwächen und Stärken auf und schafft einen Raum für Gespräche. Duval ist der Meinung, dass es jeder Person möglich sein sollte, über Trans-Themen zu sprechen. Ich bin nicht trans, aber ich habe versucht, mich hier damit auseinanderzusetzen – nicht nur darüber zu sprechen, sondern tatsächlich ins Gespräch zu kommen: mit Ihnen als Leser*in und natürlich auch mit Elizabeth Duval. Worte können verletzen (wie leider das Gespräch bei unbubble zeigt). Doch wenn jemand verletzt wird, muss es Menschen geben, die heilende Worte finden. Nach Trans mag diese heilenden Worte nicht direkt auflisten, aber es bietet eine Grundlage, sie im Dialog mit anderen zu entdecken. Und das ist ein großer Gewinn.[1] Eine Prognose, die die Realität der Bundestagswahl 2025 kaum überschätzt: Die AfD stieg auf bis zu 20,8 % der Stimmen und erhielt 152 Abgeordnete im neuen Bundestag. Dieses Ergebnis zeigt, wie wichtig es ist, zu signalisieren, wie rückschrittlich das Programm der AfD in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit ist.↩︎
[2] Im Original lautet die Passage: „he aquí un programa político: negar (y es enorme la importancia de la negación) aquello que se ha aprendido e internalizado y constituirse, a su pesar, como sujeto […] reclamando una agencia a pesar de la libertad que le ha sido negada“ (Duval, Después de la trans 75). Im Fließtext verweise ich ansonsten nur auf die deutsche Übersetzung.↩︎
Zitierte Literatur
Primärliteratur
- Duval, Elizabeth. Después de lo trans. Sexo y género entre la izquierda y lo identitario. La Caja Books, 2021.
- Duval, Elizabeth. Nach Trans: Sex, Gender und die Linke. Übers. von Luisa Donnerberg, Verlag Klaus Wagenbach, 2023.
Sekundärliteratur
- Alternative für Deutschland. “BTW 2025 Wahlprogramm.” Alternative Für Deutschland, 12 Jan. 2025, www.afd.de/wahlprogramm25/. Letzter Zugriff am 18. Februar 2025.
- Cantow, Matthias, et al. “Wahlumfragen Zur Bundestagswahl 2025.” Wahlrecht.de, 1 Feb. 2025, www.wahlrecht.de/umfragen/. Letzter Zugriff am 31. Januar 2025.
- Müller, Volker. “Gesetzentwurf Zur Änderung Des Geschlechtseintrags Debattiert.” Deutscher Bundestag, 15 Nov. 2023, www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw46-de-geschlechtseintrag-976420. Letzter Zugriff am 20. Februar 2025.
Weiterführende Literatur
- Ahmed, Sara. Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others. Duke University Press, 2006.
- Butler, Judith. Die Macht der Geschlechternormen. Übers. von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber. Suhrkamp, 2009.
- Butler, Judith. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. von Karin Wördemann. Berlin Verlag, 1995.
- Fausto-Sterling. “The Five Sexes. Why Male and Female Are Not Enough”. The Sciences 33/2, 1993, S 20-24.
- de Lauretis, Teresa. Technologies of Gender. Essays on Theory, Film and Fiction. Indiana University Press, 1987.
- Gherovici, Patricia. Transgender Psychoanalysis: A Lacanian Perspective on Sexual Difference. Routledge, 2017.
- Halberstam, Jake. Trans: A Quick and Quirky Account of Gender Variability. University of California Press, 2018.
- Halberstam, Jake. In a Queer Time & Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York University Press, 2005.
- Preciado, Paul B. Ich bin ein Monster, das zu dir spricht. Übers. Stefan Lorenzer. LM Verlag 2023.
Weiterführende Materialien
- Sternstunde Philosophie: Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Elizabeth Duval “Was Bedeutet Trans-Sein, Elizabeth Duval?” YouTube, 30 Jan. 2022. Hier klicken. Letzter Zugriff am 30. Januar 2025.
- “Selbstbestimmungsgesetz: Trans* Mann Trifft Feministin.” ZDF, Sag’s mir, 13 Nov. 2024. Hier klicken. Letzter Zugriff am 10. März 2025.
Empfohlene Zitierweise
Adriano Rojas Castro: [Art.] Elizabeth Duval. In: Online-Enzyklopädie der Frauen in der Theoriegeschichte. Hrsg. von Marília Jöhnk. URL: https://theoriespuren.de/artikel/elizabeth-duval/ [Datum des letzten Abrufes].