Anna Lowenhaupt Tsing

Anna Lowenhaupt Tsing

Artikel von Kaja Maikowski

Steckbrief

  • Name: Anna Lowenhaupt Tsing
  • Lebensdaten: *1952
  • Bekannteste Werke: Friction: An Ethnography of Global Connection; The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins
  • Themen: Globalisierung, Anthropologie, Ethnografie, Ökonomie, Prekarität, Natur, Matsutake
  • Sprachkultur: Englisch (USA)
  • Schlagworte: Akteur-Netzwerk-Theorie, Soziologie, Kulturtheorie, Europa, Vereinigte Staaten, Asien (China, Japan)

Anna Lowenhaupt Tsing als „woman writing culture”

Ich suche nach einem sinnvollen, ansprechenden Anfang für diesen Beitrag zu Anna Lowenhaupt Tsing – und scheitere. Vielleicht, weil ich mich einem bestimmten, wissenschaftlichen Schreibstil verpflichtet fühle; vielleicht, weil mich die Schlagworte und Stichpunkte abschrecken, die ich selbst gewählt habe: Globalisierung, Ökonomie, Akteur-Netzwerk-Theorie. Das klingt so voraussetzungsreich, so komplex. Tsing führt ihre Leser*innen durch multidimensionale und von Theorie durchflochtene Landschaften. Wie schafft sie es, ein solches Abenteuer zu beginnen? Ich blicke auf den Anfang von The Mushroom at the End of the World zurück – und atme auf. Tsing beginnt ihre Reise nämlich nicht mit Theorie, sondern mit Literatur, mit einem japanischen Gedicht aus dem achten Jahrhundert (Tsing, The Mushroom at the End of the World 1). Sie selbst knüpft daran an, lässt sich nicht von wissenschaftlichen Standards einschränken, und erzählt: „What do you do when your world starts to fall apart? I go for a walk.“ (ebd.) Ich bin erleichtert – und beginne meinen eigenen Text als Spaziergang durch ihr Werk mit einem Ich.


Literatur, Schreiben und Wissenschaft: In Tsings Werk ist all das eng miteinander verknüpft. Tsing ist Professorin für Anthropologie an der University of California in Santa Cruz, und doch beginnt sie ihr wissenschaftliches Schreiben mit einem Zitat aus der Literatur. Mit der Bedeutung, die ihr Werk offensichtlich dem Schreiben zuspricht, steht sie im Mittelpunkt der Writing Culture Debatte, die dieses als zentralen Teil der anthropologischen Arbeit in den Mittelpunkt stellt (Clifford und Marcus). Mit einem eigenen Beitrag in dem Sammelband Women Writing Culture, der sich insbesondere mit dem anthropologischen Schreiben von Frauen auseinandersetzt, macht Tsing deutlich: Sie ist Anthropologin und sie schreibt.


Dieses Bekenntnis zum Schreiben ist deshalb so wichtig, weil es sich auf viele ihrer Werke niederschlägt. Ihre Analyse in Women Writing Culture nimmt literarische Texte in den Blick (Behar und Gordon 391) und auch die Verwobenheit ihrer Werke mit Zitaten aus Prosa und Poesie wird zu einem erkennbaren Merkmal ihres Schreibens (Tsing Friction und The Mushroom at the End of the World). Aber auch dieses Schreiben selbst ist eines, das sich zwischen Literatur und Wissenschaft bewegt – ihre Ethnografien werden zu Geschichten mit Protagonist*innen, die oftmals nicht menschlich sind. In Friction erzählt Tsing von der kulturell-ökonomisch geprägten Geschichte indonesischer Regenwälder, in The Mushroom at the End of the World wird ein Pilz, der Matsutake, zum Protagonisten. Mit dieser Art und Weise, Wissenschaft zu erzählen, knüpft sie an bekannte Autor*innen und Theorien an, die teilweise zitiert und genannt werden, wie Ursula K. Le Guin (Tsing The Mushroom at the End of the World 288) oder die, wie Donna Harraway (ebd. 292, 293) als Inspiration in den Fußnoten verborgen bleiben. Dies gilt auch für die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die immer wieder anklingt, aber bloß implizit mit dem Verweis auf Bruno Latour in den Fußnoten erwähnt wird.


In The Mushroom at the End of the World geistert die ANT auf diese Weise durch den Text und die Landschaften, von denen er erzählt: Der Matsutake als Protagonist wird zu einem ,Aktanten‘ nach Latour, der, auch wenn er nicht menschlich ist, an den unterschiedlichsten Schauplätzen des Sozialen einen Unterschied macht (Latour 71). Das Herumgeistern und Heimsuchen, das „haunting“, ist wiederum ein Begriff, den Tsing (The Mushroom at the End of the World, 73f., 76, 79, 85) selbst in ihren Analysen entwickelt und nutzt. Er beschreibt einen Zustand, in dem neue Situationen, Lebensphasen und Umstände von Altem unterwandert, eben heimgesucht werden (ebd. 79). Ich merke: Tsings Schreiben hat nicht nur den Anfang meines Textes beeinflusst; es sucht mein eigenes Schreiben über ihr Werk immerzu heim. Ihr interdisziplinäres und interkulturelles Schreiben, das stets auf andere Theorien, Autor*innen und Werke hinweist, sich wieder von ihnen entfernt und doch heimgesucht wird, ist stets präsent, wenn man selbst von Tsings Werken schreiben möchte. Sie ist eine „woman writing culture“, ihr Schreiben ist für das Verständnis der Kulturen, denen sie sich zuwendet, zentral.


The Mushroom at the End of the World

Möchte man diese Art des ethnografischen Schreibens in seiner Verwobenheit und seinen Verwurzelungen näher betrachten, lohnt es sich, einen Blick auf Anna Lowenhaupt Tsings The Mushroom at the End of the World zu werfen. Es ist ihr vermutlich bekanntestes und am intensivsten rezipiertes Werk, das sogar zum Sachbuchbestseller geworden ist (Rössler 101). The Mushroom at the End of the World macht den eher unbekannten Matsutake zum Protagonisten diverser kultureller, ökonomischer und sozialer Bewegungen und wurde mehrfach ausgezeichnet.


Was Tsings Studie so besonders macht, ist wahrscheinlich auch ihre neue Perspektive. Anders als in ihrem bereits erwähnten Friction – in dem sie ankündigt: „I will tell stories of destruction“ (Tsing, Friction 26) – wagt sie nun einen ähnlichen, aber hoffnungsvolleren Blick auf die Welt. Hier nun geht es um „collaborative survival in precarious times“ (Tsing, The Mushroom at the End of the World 2). Von diesem Ansatz aus führt uns Tsing durch die Wälder Oregons, Japans und Finnlands, macht aber auch Abstecher nach China und Südkorea. Die Geschichte, die sie dabei erzählt, wird von den Matsutake gesponnen, also Pilzen, die dort wachsen, wo Zerstörung schon geschehen ist (ebd. 3). Vielmehr noch sind es Pilze, die auf die Ruinen, in denen sie entstehen, angewiesen sind – denn sie können nicht gezüchtet werden (ebd. 69). Tsing zwingt uns mit einer auf diese Weise konzipierten Erzählung, unseren Blick von dem, was wir als bloß menschlich ansehen, abzuwenden, und auf die Multispezies-Welten, „multispecies worlds“, zu lenken (ebd. 22). Diese Welten werden von Menschen, aber eben auch von Pflanzen und Tieren geformt, die, indem sie Lebenswelten für sich selbst schaffen, jene der anderen ebenso mitgestalten (ebd.). Auch hier scheint Tsings Erzählung von der Akteur-Netzwerk-Theorie heimgesucht zu werden.


Haben wir unseren Blick allerdings erst auf diese Multispezies-Welten gerichtet, sehen wir all die Verflechtungen, „entanglements“ (ebd. 255) zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, die eine neue Perspektive in einer von Prekarität geprägten Welt ermöglichen. Der erste Schauplatz einer solchen Welt ist bei Tsing Oregon. Hier erzählt sie von verschiedenen kulturellen Gemeinschaften, deren Mitglieder Matsutake sammeln (etwa ebd. 106). Die meisten von ihnen haben eine japanische Migrationsgeschichte; in Japan gelten die Matsutake als Delikatesse (Ebd. 7). Das Sammeln der Matsutake in Oregon versinnbildlicht aber nicht bloß den Zusammenfluss kultureller Differenzen und Gemeinsamkeiten. Denn was die Matsutake auf ihrem Weg nach Japan, wohin sie exportiert werden, durchlaufen, ist eine Übersetzung von einem nicht-kapitalistischen System in ein kapitalistisches Wertesystem (ebd. 63). Die Verhandlungen zwischen Sammler*innen und Käufer*innen, die in einem stark kulturell geprägten Kaufsystem, das Tsing „Open Ticket“ nennt (ebd. 73), ablaufen, funktionieren zwar im Wettbewerb, aber ohne Kapital (ebd. 82). Erst später, wenn die Pilze für den Transport und Verkauf vorbereit werden, werden sie in ein kapitalistisches Wertesystem übersetzt (ebd. 127 f.). Der Matsutake zeichnet so die Ränder des Kapitalismus nach: Er öffnet den Blick für Orte und Systeme, in denen kapitalistische Prinzipien porös werden. Das stellt eine bloß menschlich gedachte Welt allerdings infrage. Denn ehe man es sich versieht, lässt man sich die komplexen Verbindungen von Kultur und Ökonomie in einer prekären Welt von einem Pilz erklären. Tsing wendet den Blick ihrer Leser*innen hier erfolgreich den Multispezies-Welten zu.


Nach Japan reisend, wo die Matsutake eine besondere kulturelle Stellung einnehmen, erweitert Tsing diese Welten um Kiefern, die mit den Pilzen eng verbunden sind: „[I]f you want matsutake in Japan, […] you must have pine, and if you want pine, you must have human disturbance“ (ebd. 151). Menschen, Kiefern und schließlich Matsutake sind in ihren Lebenswelten so eng verwoben, dass sie nur zusammen als Reiseführer durch eine prekäre Welt leiten können. In ihrem Zusammenspiel führen sie Tsing so auch nach Finnland und schließlich wieder zurück nach Oregon. An all diesen Schauplätzen werden wir Welten gewahr, die weit über das Menschliche hinausgehen, in Prekarität entstehen, und so letztlich Hoffnung machen.


Die Erzählung von der Reise, die Tsing hier mit den Matsutake antritt, reflektiert darüber hinaus allerdings auch sich selbst als Methode und Denkweise. Die Pilze werden zum Vorbild im Denken – „thinking with mushrooms“ (ebd. 38) ist das Ziel. Und dieses Denken ist eines, das sich an Details orientiert, eben einem einzigen, kaum bekannten Pilz. Denn wenn man den Blick gen Boden richten muss, um diesen betrachten zu können, wird man plötzlich des weit gesponnenen Netzes aus Wurzeln und Rhizomen gewahr, das darunter liegt. Tsing erhebt ihre eigene Erzählweise so zur Methode: „This is not just a story […], but also a method: big histories are always best told through insistent, if humble, details.“ (ebd. 111)


Auch deshalb ist The Mushroom at the End of the World ein Werk, das einen guten Einblick in Tsings Arbeit als „woman writing culture“ gewährt. Es spinnt Friction aus einem hoffnungsvolleren Winkel weiter und legt so die Basis für das später erschienene Arts of Living on a Damaged Planet. Zugleich werden dank der ökonomischen und kulturellen Verbindungen, welche die Matsutake offenlegen, viele der Begriffe erklärt, die auch für das Verständnis anderer Werke Tsings von besonderer Bedeutung sind: „precarity“ (ebd. 2), „multispecies worlds“ (ebd. 22) und „disturbance“ (ebd. 160) sind Konzepte, die hier vorgestellt und erarbeitet werden. Vor allem aber öffnen sie den Blick für Tsings Schreiben in seiner Verwobenheit mit anderen Texten und Theorien, die sich stets auch in den Inhalten ihrer Werke niederschlägt, wenn sich Netze aus Verbindungen zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Handeln aus dem Blick auf einzelne Protagonist*innen entspinnen.


Kollaboratives Schreiben in der Multispezies-Welt

The Mushroom at the End of the World lässt sich allerdings, ebenso wie Matsutake nur in ihrer Verbindung zu Kiefern betrachtet werden können, besonders gut im Zusammenspiel mit anderen Texten verstehen. Entstanden ist das Werk aus der Arbeit der Matsutake World Research Group, deren Mitglied Anna Lowenhaupt Tsing ist. Es kann somit zusammen mit Werken anderer Autor*innen gelesen werden, die ebenso daran mitgewirkt haben – zum Beispiel mit Michael Hathaways What a Mushroom Lives for (2022) und Shiho Satsukas Nature in Translation (2015). Das ist auch deshalb interessant, weil The Mushroom at the End of the World zwar durchaus in der Wissenschaft Beachtung gefunden hat – etwa in seiner Beschreibung als „Sachbuchbestseller“ (Rössler 101), bei der näheren Betrachtung bestimmter Begriffe (Gorzanelli), oder im Rahmen kurzer Beiträge (Ribbat) –, meistens aber eher am Rande der Wissenschaftlichkeit rezipiert wurde. Über Interviews, Rezensionen und journalistische Beiträge lässt sich, so mein Eindruck, weit mehr zu Tsings Werk finden als auf der Suche nach seiner Rezeption in Anthropologie oder Kulturwissenschaft. Tsings Schreiben zwischen Literatur und Wissenschaft erfährt so die Prekarität, von der es selbst erzählt. Und es macht deutlich: Matsutake beschreiben nicht nur die Welten, in denen wir leben, sondern auch diejenigen, in denen wir schreiben.

Zitierte Literatur

  • Behar, Ruth und Gordon, Deborah (Hrsg.). Women Writing Culture, herausgegeben von Ruth Behar und Deborah Gordon. University of California Press, 1995.
  • Clifford, James und Marcus, George (Hrsg.). Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, University of California Press, 1986.
  • Ebron, Paula und Lowenhaupt Tsing, Anna. „In Dialogue? Reading Across Minority Discourses.“ Women Writing Culture
  • , University of California Press, 1995, S. 390–411.
  • Gorzanelli, Ivano. „The Assemblage as Aesthetic Place. A Reading between Aesthetics and the Anthropocene of The Mushroom at the End of World.“ European Journal of Creative Practices in Cities and Landscapes, 5.2, 2022, S. 115–126.
  • Hathaway, Michael. What a Mushroom Lives for. Matsutake and the Worlds They Make, Princeton University Press, 2022.
  • Latour, Bruno. Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford University Press, 2005.
  • Ribbat, Christoph. „Infinite Fungus. Capitalism, Nature Writing, and Anna Lowenhaupt Tsing’s The Mushroom at the End of the World.“ Culture^2. Theorizing Theory for the Twenty-First Century Volume 1, transcript, 2022, S. 113–123.
  • Rössler, Reto. „Mittelmeer und Material Turn. Kulturgeschichte als interkulturelle Verflechtungsgeschichte bei Fernand Braudel und Anna Lowenhaupt Tsing.“ Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 14.2, 2023, S. 99–114.
  • Satsuka, Shiho. Nature in Translation, Duke University Press, 2015.
  • Tsing, Anna Lowenhaupt. Friction. An Ethnography of Global Connection, Princeton University Press, 2015.
  • ——— The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, Princeton University Press, 2015.
  • Tsing, Anna Lowenhaupt, Mogu Mogu, Lieba Faier, Michael Hathaway und Miyako Inoue. „A New Form of Collaboration in Cultural Anthropology. Matsutake Worlds.“ American Ethnologist, 36.2, 2009, S. 380–403.

Weiterführende Literatur

  • Haraway, Donna. The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Prickly Paradigm Press, 2003.
  • Lavie, Smadar; Narayan, Kirin; Rosaldo, Renato (Hrsg.). Creativity/Anthropology, Cornell University Press, 1993.
  • Tsing, Anna Lowenhaupt. In the Realms of the Diamond Queen: Marginality in an Out-of-the-Way Place, Princeton University Press, 1994.
  • Tsing, Anna Lowenhaupt und Carol Gluck (Hrsg.). Words in Motion: Toward a Global Lexicon, Duke University Press, 2009.
  • Tsing, Anna Lowenhaupt, Nils Bubandt, Elaine Gan, Heather Anne Swanson (Hrsg.). Arts of Living on a Damaged Planet. Ghosts and Monsters of the Anthropocene, University of Minnesota Press, 2017.
  • Tsing, Anna Lowenhaupt, Mogu Mogu; Lieba Faier, Michael Hathaway, Miyako Inoue. „A New Form of Collaboration in Cultural Anthropology. Matsutake Worlds.“ American Ethnologist, 36.2, 2009, S. 380-403.

Empfohlene Zitierweise

Kaja Maikowski: [Art.] Anna Lowenhaupt Tsing. In: Online-Enzyklopädie der Frauen in der Theoriegeschichte. Hrsg. von Marília Jöhnk. URL: https://theoriespuren.de/artikel/anna-lowenhaupt-tsing/ [Datum des letzten Abrufs].